20.12.2011
Eine kürzlich veröffentlichte Antwort der WCAG Working Group auf eine Anfrage von BIK wirft die Frage auf, ob die Prüfung der Textskalierbarkeit im BITV-Test überarbeitet werden sollte.
Der neue BITV-Test prüft (wie schon im alten Test) die Textskalierbarkeit in zwei getrennten Prüfschritten: 1.4.4a Schriftgröße variabel und 1.4.4b Bei Zoom auf 200% benutzbar.
Der Text der Anlage 1 der BITV 2.0 legt nicht fest, welche Browserfunktion oder welche Technik zur Textskalierung genutzt werden soll. Ebenso wie die Web Content Accessibility Guidelines 2.0 ist die neue BITV sehr allgemein gehalten und beschreibt Anforderungen technikneutral.
Bei der Konkretisierung der Prüfanforderungen im neuen BITV-Test sind die WCAG 2.0 und deren dokumentierte Techniken und Fehler der wichtigste Bezugspunkt: Das How to meet WCAG 2.0-Dokument nennt ausreichende Techniken (Sufficient Techniques). Diese Techniken können nicht normativ sein, denn sie ändern sich im Zuge der technischen Entwicklung, und neue Techniken kommen hinzu. Die BIK Testentwicklung ist in der WCAG Working Group aktiv an den Diskussionen über die Techniken beteiligt.
In diesem Artikel geht es hauptsächlich um die Umsetzung der Anforderungen an Schriftskalierung im BITV-Test und um den möglichen Änderungsbedarf. Am Ende nennen wir einige weitere Prüfschritte, für die sich ähnliche Fragen ergeben.
Zum Teil ist die Konkretisierung der allgemeinen Anforderungen Auslegungssache. So scheint sich der Fehler F69 bisher deutlich auf die reine Textvergrößerung zu beziehen, denn die dort enthaltenen Code-Beispiele lassen sich mit dem Seiten-Zoom gängiger Browser fehlerlos vergrößern. Der Fehler F69 war deshalb bislang ein wichtiger Bezugspunkt für die Beibehaltung der Forderung nach reiner Schriftvergrößerung im BITV-Test (siehe dazu auch den englischen Artikel Text resizing: Why page zoom is not good enough).
Andererseits legt das "How-to-Meet"-Dokument der WCAG 2.0 für Erfolgskriterium 1.4.4 fest, dass sich die Anforderung "Resize text" auch schon durch die Technik G156: Using a technology that has commonly-available user agents that support zoom erfüllen lässt.
Eine Frage von BIK zur Diskrepanz zwischen Fehler F69 und dem "How-to-Meet"-Dokument ist inzwischen von der WCAG Working Group beantwortet worden. Danach reicht jede Möglichkeit der Textvergrößerung auf 200% für sich genommen schon aus, um das Erfolgskriterium zu erfüllen. Zur reinen Textvergrößerung sagt die Working Group deshalb:
Regarding requiring support for text-resize in this criterion, the group has discussed this issue at length and has concluded that zoom functionality is sufficient to meet this success criterion.
Re: Conflict between alternative options 1-4 and F69, 20. Oktober 2011
Der Fehler F69 wird nun für die nächste Version der WCAG-Techniken überarbeitet, um die aufgezeigten Inkonsistenzen zu beseitigen.
Was bedeutet das nun für den BITV-Test? Aus Nutzersicht wäre die Streichung des Prüfschritts 1.4.4a Schriftgröße variabel eine deutliche Abschwächung der Anforderungen, auch gegenüber dem alten BITV-Test. Denn nun würden selbst in Pixeln festgelegte statische Seitenlayouts die Bedingung 1.4.4 "Veränderbare Textgröße" meist ohne irgendeinen Aufwand auf Seiten des Designs erfüllen. Für die Unterstützung der reinen Textvergrößerung, die viele ältere und sehbehinderte Nutzer nutzen, um im gleichen Layout die Schriftgröße etwas heraufzusetzen, gäbe der Test dann keinen Anreiz mehr.
Praktisch ergeben sich für den BITV-Test zwei Möglichkeiten:
Zu entscheiden ist also, ob der Vorteil einer stärkeren Angleichung an die WCAG 2.0 (Level AA) den Nachteil aufwiegt, der durch den Wegfall der Anforderung an reine Schriftvergrößerung entsteht.
Auch andere aus Nutzersicht sinnvolle Anforderungen des BITV-Tests sind durch die WCAG 2.0 nicht mehr ohne Weiteres gedeckt und fordern eine ähnliche Entscheidung: entweder eine Angleichung an die WCAG 2.0 mit Wegfall oder Abschwächung von Prüfschritten, oder eine begründete Abweichung von den WCAG in Einzelfällen, in denen nicht nur nach unserer Auffassung die Techniken am Benutzerinteresse vorbeigehen.
Wir nennen im Folgenden einige Beispiele von Anforderungen, die in diesem Sinne problematisch sind.
In Prüfschritt 1.4.3a Kontraste von Texten ausreichend fordert der BITV-Test einen Mindestkontrast von 3,5:1 für die Standardseite, also vor Nutzung eines Styleswichers, der eine Seitenansicht mit ausreichenden Kontrasten aufruft. Dies wird in den WCAG 2.0 nirgends gefordert. Nicht einmal zu der Selbstverständlichkeit, dass sich Styleswitcher am Beginn einer kontrastarmen Seite finden sollten, konnte sich die WCAG Working Group bislang durchringen. Die Antwort auf eine diesbezügliche Anfrage zur WCAG-Technik G174 lautete, die Plazierung des Styleswitchers zu Beginn werde zwar empfohlen, sei aber nicht zwingend:
This technique does not require that the style switcher be at the top of the page. This is just good practice and therefore we included it in the examples to encourage it. It is therefore not in the technique nor in the test criteria. However, we are adding a note about this in the description.
Antwort der WCAG WG vom 23 März 2011
In Prüfschritt 1.4.3b Kontraste von Grafiken ausreichend fordert der BITV-Test ausreichende Kontraste auch für Informationsgrafiken, etwa Diagramme. Dies ist nur gedeckt durch das Dokument Understanding SC 1.4.3, wo wir folgenden Passus finden:
Although this Success Criterion only applies to text, similar issues occur for data presented in charts or graphs. Good color contrast should also be provided for data presented in these forms.
Quelle: Contrast (Minimum): Understanding SC 1.4.3
Auch hier kann man argumentieren, dass das 'should' zwar eine Empfehlung ausdrückt, aber keine zwingende Forderung darstellt. Die Anforderung nach guten Kontrasten von Grafiken ist demnach zwar fraglos sinnvoll, aber in den WCAG nicht zwingend gefordert.
Bei der weiteren Entwicklung des BITV-Tests gilt es abzuwägen zwischen den Vorteilen einer größeren Nähe zu den WCAG 2.0 und dem Interesse, begründete und wichtige Anforderungen der Barrierefreiheit nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen.
Wenn sich in den WCAG deutliche Lücken zeigen, muss erwogen werden, ob es nicht im Interesse der Nutzer ist, in bestimmten Fällen eine abweichende Praxis zu verfolgen und sich parallel innerhalb der WCAG Working Group aktiv für Korrekturen der WCAG einzusetzen.
Um ein bereits genanntes Beispiel aufzugreifen: Ein Test, der sich durch die strikte Ausrichtung an WCAG-Minimalanforderungen gezwungen sähe, eine Seite mit Schrift in durchgehend hellgrau auf weiß im Prüfschritt 1.4.3a "Kontraste von Texten ausreichend" mit "erfüllt" zu bewerten, nur weil sich irgendwo am Seitenende ein Styleswitcher befindet, der erstens von vielen nicht gefunden und zweitens oft nicht verstanden würde, wäre kaum plausibel und würde die Bedürfnisse sehbehinderter Nutzer komplett ignorieren. Solange solche Schnitzer von den WCAG gedeckt sind, ist es wohl nachvollziehbar, dass der BITV-Test von den Anforderungen der WCAG in einzelnen gut begründeten Fällen abweicht.
Wir laden Experten und betroffene Nutzer ein, zur Frage der Abweichungen zwischen BITV-Test und den WCAG-Techniken und Dokumenten zur Umsetzung Stellung zu beziehen. Die WCAG sind ja keine Bibel, sondern werden von der Working Group immer wieder dem Meinungsbild der Community angepasst.
Was die Textskalierung angeht: Sollte der BITV-Test der WCAG enger folgen und die Prüfschritte zu Textskalierung umarbeiten oder an den höheren Anforderungen festhalten? Und wie sieht es mit den weiteren genannten Prüfschritten aus? Ein breiteres Meinungsbild wird BIK helfen, diese Frage im Sinne der Community und der Interessen von Menschen mit Behinderungen zu klären.