Ein deutsch-schwedischer Wissenschaftler und Wegbereiter auf dem Gebiet der Behindertenhilfe ist viel zu früh von uns gegangen. Er hinterlässt eine Ehefrau und eine Tochter sowie eine ganze Gemeinschaft, die um ihn trauern.
Adolf Dieter Ratzka, Ph.D. In Memoriam
Ein Pionier der Behindertenbewegung in Europa
Adolf Ratzka war ein herausragender Verfechter der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er setzte sich in Europa für das Konzept des Selbstbestimmten Leben ein. Er machte es bekannt und trieb die Bewegung maßgeblich voran. In Schweden veränderte er die Politik und Gesetzgebung im Bereich der persönlichen Assistenz.
"Solange wir unsere Behinderungen als Tragödien betrachten, werden wir bemitleidet. Solange wir uns dafür schämen, wer wir sind, wird unser Leben als nutzlos angesehen werden. Solange wir schweigen, werden uns andere sagen, was wir zu tun haben."
Adolf Ratzka war Mitbegründer des European Network on Independent Living (ENIL), gründete das schwedische Independent Living Institute (ILI) und die Stiftarna av Independent Living i Sverige (STIL). Er erwarb einen Bachelor of Arts in Soziologie, einen Master of Science in Betriebswirtschaft und einen Ph.D. in Urban Land Economics an der University of California, Los Angeles, sowie einen Bachelor of Science in Psychologie an der Universität Stockholm, Schweden. Während seiner aktiven Zeit wurde Adolf mit dem European Citizen Award ausgezeichnet und vom TIME-Magazin als europäischer Visionär gewürdigt.
Persönliche Erfahrung mit institutioneller Abhängigkeit
Adolf Ratzka wurde 1943 in Deutschland geboren. Aufgrund einer Polio-Erkrankung im Jahr 1961 war er im Alter von 17 Jahren gelähmt und benötigte ein Beatmungsgerät sowie einen elektrischen Rollstuhl. Aus Mangel an rollstuhlgerechten Wohnungen und praktischen Hilfen im Alltag musste er fünf Jahren im Krankenhaus in München verbringen. Während seines Krankenhausaufenthaltes machte er seinen Realschulabschluss und erwarb die notwendigen Qualifikationen, um zu studieren. Die Universität München war jedoch über 500 Jahre alt und mit dem Rollstuhl nicht erreichbar. Einer der wenigen Orte, wo Adolf das Studium aufnehmen konnte, war die University of California, Los Angeles (UCLA).
Ein neues, selbstständiges Leben in den USA
Er zog nach Los Angeles und setzte damit den Anfang für ein selbstorganisiertes Leben. Er wohnte in einem Studentenwohnheim und beschäftigte Kommilitonen als persönliche Assistenz, finanziert durch ein Stipendium des deutschen Bundeslandes Bayern.
In dieser Zeit protestierte in den USA die Independent-Living-Bewegung dagegen, dass Behinderung nur als ein Problem der jeweiligen Person und ihrer Familie betrachtet wird. Stattdessen argumentierte sie, dass Behinderung das Ergebnis einer ungerechten Machtstruktur und somit ein gesellschaftliches Problem sei. Menschen mit schweren Behinderungen sollten mit Hilfe persönlicher Assistenz gleichberechtigt mit allen anderen an der Gesellschaft teilhaben können.
Adolf schloss sein Studium in Kalifornien mit einem Doktortitel in Betriebswirtschaftslehre ab. Seine Doktorarbeit befasste sich mit den finanziellen Aspekten von barrierefreiem Bauen, das heißt, wie es Kosten verursachen als auch Einsparungen und Vorteile bringen kann. Nach seinem Studium kam er nach Schweden, um am Institut für Landrecht zu studieren. Er blieb dort, um sich als wichtiger Fürsprecher für die Einführung und Förderung der Grundsätze des unabhängigen Wohnens einzusetzen.
Reform des schwedischen Pflegesystems
Das damalige schwedische Pflegesystem war angebotsorientiert. Umfang und Art der Leistungen wurden hauptsächlich durch die vorhandenen Ressourcen und Einrichtungen bestimmt und weniger von spezifischen Bedürfnissen der Einzelnen. Es fehlte damit jegliche Wahlfreiheit und Selbstbestimmung für die Pflegebedürftigen. Die Unterstützung richtete sich nicht nach dem Hilfebedarf der behinderten Person, sondern nach dem Budget der Kommune. Da das System nur nach dem Prinzip der "Einheitsgröße" funktionierte, konnte sich niemand seine Assistenz selbst aussuchen. Frauen konnten zum Beispiel gegen ihren Willen Männer als Betreuer zugewiesen werden. Adolf bezeichnete das System als entmündigend und forderte eine Änderung.
Die erste Assistenzgenossenschaft
In einem Pilotprojekt durften Adolf und andere Personen ihre eigenen persönlichen Assistenten einstellen und einteilen; die Organisation erfolgte in Form einer Genossenschaft. Für den gleichen Geldbetrag führte das Projekt zu erheblich mehr Freiheit, Unabhängigkeit und Lebensqualität. 1984 gründete er die erste persönliche Assistenzgenossenschaft in Europa (Stiftarna av Independent Living i Sverige), zehn Jahre später (1994) führte das Projekt und eine umfangreiche Lobbyarbeit zu einer Reform der Gesetzgebung für persönliche Assistenz.
Heute haben in Schweden etwa 19 000 Menschen mit schweren Behinderungen das Recht auf persönliche Assistenz. Fast 100.000 Menschen sind als persönliche Assistenten beschäftigt, was diesen Beruf zum elftgrößten in Schweden macht.
Ohne Adolfs unermüdlichen Einsatz für die Verbesserung des Lebens von Menschen mit Behinderungen wäre dies alles nicht möglich gewesen.
Susanna Laurin, Vorsitzende der Funka Foundation und ehemalige Mitarbeiterin von Adolf.