IAAP EU Accessibility 2024

Detlev Fischer

Am 9. und 10. April fand in Paris eine zweitägige Veranstaltung der IAAP EU statt. Sie konzentrierte sich auf EU-spezifische Inhalte und umfasste Fachvorträge, politische Diskussionen, und einen Experten-Workshop.

EN-Anforderungen jenseits der WCAG

Die BITV (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) 2.0 verweist seit ihrer Novellierung im Mai 2019 auf die Europäische Norm (EN) 301 549. Anhang A dieser Norm enthält Tabellen, die die Konformitätsanforderungen von Websites und Apps definieren. Ein Teil der Anforderungen geht über die der WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) hinaus.

Während die WCAG sogenannte Understanding-Texte mit hilfreichen Informationen und Beispielen bietet, um den kurzen, normativen Text zu interpretieren, existiert so etwas für die zusätzlichen Anforderungen der Europäischen Norm nicht. Es gibt in Annex C der Norm lediglich kurze Test-Anleitungen und definierte Vorbedingungen (sogenannte preconditions). Die Norm vermittelt recht knapp, wann die Anforderung erfüllt ist. Häufig bleibt jedoch ein gewisser Interpretationsspielraum. Zusätzliche Understanding-Texte, auf deren Basis umsetzende Teams, Test-Expertinnen und -Experten sowie Kontroll- und Überwachungsbehörden die Anforderungen verstehen und in gleicher Weise auslegen, sind dringend notwendig.

Die BIK-Testentwicklung formuliert in den BIK BITV-Test Prüfschritten für die Bereiche Web und App Beschreibungen nach dem Muster „Was wird geprüft?“, „Warum wird das geprüft?“ und „Wie wird geprüft?”. Diese Festlegungen sollen sowohl das Verständnis fördern, wie auch die Prüfpraxis unterstützen.

Seit 2021 sind auch die zusätzlichen EN-Anforderungen als Prüfschritte dokumentiert. Sowohl bei der Formulierung der Prüfschritte, wie auch in der täglichen Praxis ergeben sich immer wieder Fragen, wie eine Anforderung genau gemeint ist. Der öffentliche Austausch auf GitHub hilft, die Themen einzugrenzen und im Ansatz zu klären, aber es bleiben dennoch offene Fragen.

IAAP Experten-Workshop

Die Veranstaltung startete am ersten Tag mit einem Workshop, um sich solchen Fragen zu widmen. Dazu eingeladen waren eine Reihe internationaler Expertinnen und Experten der Barrierefreiheit, darunter Malin Hammarberg (Funka Foundation), Peter Kemeny (Egeszsegert), Shadi Abou-Zahra (Amazon), Wilco Fiers (Deque) und auch Detlev Fischer, Leiter der BIK Testentwicklung bei DIAS.

Die Arbeit an den Anforderungen fand in fünf Gruppen statt. Die Ergebnisse der Gruppen wurden anschließend im Plenum vorgetragen und diskutiert. Die Moderation übernahm Susanna Laurin (IAAP EU).

Anhand von zwei Anforderungen wollen wir beispielhaft aus dem Workshop berichten (Hidde de Vries gibt in seinem Blogbeitrag On authoring tools in EN 301 549 einen Überblick über die Diskussionen zu den Anforderungen des Kapitels 11.8 Autorenwerkzeuge).

5.2 Activation of accessibility features

5.2 Aktivierung von Barrierefreiheitsfunktionen verlangt, dass die Aktivierung von Funktionen, die spezielle Bedürfnisse von Nutzenden erfüllen, barrierefrei möglich ist. Der Prüfschritt ist jedoch nur anwendbar, wenn die zu prüfende Webseite spezielle Barrierefreiheits-Funktionen bereithält, die im Angebot selbst, etwa in den Einstellungen, oder in einer zur Verfügung gestellten technischen Dokumentation dokumentiert sind.

Unklar ist die Frage, wann genau man sagen kann, ein Feature sei dokumentiert. Interessant ist auch, ob sich über die Formulierung der Anforderung eine Argumentation ableiten lässt, Overlay-Tools grundsätzlich von der Prüfung auszuschließen, denn es heißt in der Norm:

"It should be possible to activate those documented accessibility features that are required to meet a specific need without relying on a method that does not support that need."

Argumentieren könnte man, dass ein Overlay — als überladenes "Schweizer Taschenmesser" — weder ein spezifisches Bedürfnis von Nutzenden erfüllt, noch, dass sie dafür wirklich erforderlich sind.

Meistens gibt es bessere Wege, die Anforderungen zu erfüllen. So ist es zum Beispiel für Nutzende sehr viel produktiver, die Schriftgröße generell im Browser zu ändern, als auf jeder Site in die Einstellungen eines Overlays eintauchen zu müssen, um dann festzustellen, dass es in vielen Fällen zu Überlappungen und abgeschnittenem Text kommt. Probleme, die es bei Nutzung des Browser Zooms meist nicht gäbe.

Zunehmend übernehmen auch die Browser Barrierefreiheitsfunktionen. So kann beispielsweise ein Browser wie Edge den Inhalt einer Seite vorlesen, ohne dass man dafür ein Plugin bräuchte. Bei Apps gibt es dafür systemseitige Funktionen.

11.7 User Preferences

Die Anforderung 11.7 Benutzerdefinierte Einstellungen verlangt, das Nutzende Einstellungen im Browser beziehungsweise (bei Apps) im Betriebssystem vornehmen können, die ihre eigenen Präferenzen widerspiegeln (etwa vergrößerter Text oder eigene Farbschemata). Die EN nennt in der Anforderung jedoch auch Aspekte, die sich zum Teil gar nicht in Browsern einstellen lassen, etwa Schriftart oder Fokushervorhebung bzw. Einfügemarke. Nicht erfasst sind dagegen manche Einstellungen, auf die Websites und Apps (sofern umgesetzt) reagieren könnten, etwa Einstellungen für reduzierte Bewegung oder Dark Mode.

Bei dem Einstellen eigener Farbschemata (geänderte Vorder- und Hintergrundfarben) kommt es häufig vor, dass bestimmte selbst gestaltete Bedienelemente (sogenannte "Custom Controls") nicht mehr benutzbar sind, weil der Zustand (aktiviert, nicht aktiviert) nicht mehr erkennbar ist. Das Icon, das beispielsweise eine aktivierte Checkbox identifiziert, ist in so einem Fall nicht mehr sichtbar. Ein anderes Beispiel wäre ein schlecht oder nicht mehr sichtbares wichtiges grafisches Element (zum Beispiel ein Hamburger-Icon für den Menü-Schalter), das verschwindet, weil es keinen eigenen Hintergrund hat oder weil die Vordergrund-Farbe für ein eingesetztes SVG nicht über CSS currentColor definiert ist und sich damit nicht an die Nutzenden-Einstellungen für Vordergrundfarbe anpasst.

Uns, bei der BIK Testentwicklung, ist nicht ganz klar, was genau geprüft werden soll, und wann man von einem "Nicht erfüllt" (FAIL) der Anforderung sprechen kann. Wir haben unsere Fragen zu 11.7 daher als Beitrag zu einem Issue im ETSI Gitlab formuliert.

Fazit

Insgesamt kann man sagen, dass es selbst für die wenigen besprochenen Anforderungen keine abschließende Klärung gab. Es wurde jedoch deutlich, wie weit die Vorstellungen auseinander liegen und in welche Richtung die Reise in etwa geht.

Eine Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten soll über einen längeren Zeitraum hinweg Understanding-Texte für die EN-Anforderungen erarbeiten, die dann in der Community validiert werden, so der Plan. Die Finanzierung dafür ist allerdings noch unklar. Wir erhoffen uns, dass aus dieser Arbeit und weiteren Aktivitäten der IAAP EU Texte hervorgehen, die auf einen breiteren Konsens fußen als das, was wir in der BIK Testentwicklung mit Hilfe der Diskussionen auf GitHub vorläufig festlegen konnten.