Neuer Entwurf der WCAG 3.0 veröffentlicht

Detlev Fischer

Heute, rechtzeitig zum Global Accessibility Awareness Day, wurde eine neue Version des Working Draft der W3C Accessibility Guidelines (WCAG) 3.0 veröffentlicht. Der Entwurf wurde von der Accessibility Guidelines Working Group (AGWG) entwickelt, in der ich als Invited Expert mitarbeite. Das Ziel der Veröffentlichung dieses frühen Entwurfes ist es, Feedback für die weitere Arbeit einzuholen.

Was als Erstes auffällt ist, dass sich die Anzahl der Anforderungen, die jetzt „Outcomes“ und nicht mehr „Success Criteria“ heißen, deutlich erhöht hat (174 Outcomes). Das liegt zum Teil daran, dass die Struktur jetzt kleinteiliger ist. Manche Anforderungen der WCAG 2.X, wie 1.3.1 Info and Relationships, die viele Unteranforderungen enthalten, sind hier sehr viel granularer umgesetzt.

Die Outcomes sind bewusst Technologie-unabhängig formuliert. Sie können auf verschiedene Web-Inhalte angewendet werden: statische Inhalte, aber auch Anwendungen, Streaming-Dienste, Audio- und Videoinhalte oder webbasierte Virtual- und Augmented-Reality-Formate. Daher werden technologie-spezifische Methoden ("methods") entwickelt werden, die zeigen, wie die Outcomes für diese Technologien bzw. Formate umgesetzt werden können.

Kognitive Anforderungen, Interaktion, Nutzenden-Einstellungen

Eines der erklärten Ziele bei der Entwicklung der neuen WCAG 3.0 ist es, mehr Anforderungen aus dem Bereich der kognitiven Zugänglichkeit abzubilden als bisher. Das ist nicht einfach, denn gerade diese Anforderungen lassen sich häufig schwer im Sinne einer klaren Pass/Fail-Bewertung prüfen - und daraus ergibt sich die schwierige Frage eines handhabbaren und möglichst stimmigen Bewertungsschemas. Aus Sicht des Gesetzgebers bleibt es nämlich bei dem Ziel, die Anforderungen möglichst eindeutig und objektiv prüfbar zu halten. Aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen und erhöhtem Bedarf an Zugänglichkeit ist es dagegen wichtig, dass auch Anforderungen, die schwieriger zu bewerten sind, etwa die Verständlichkeit von Sprache oder die sinnvolle Gliederung von Inhalten, in der neuen Version der Richtlinien Berücksichtigung finden werden.

Ein weiterer Bereich sind interaktive Aspekte, abgedeckt in den Guidelines Interactive Components und Input / Operation. Sie werden gebraucht, weil das Web inzwischen zu einer Plattform für alle möglichen komplexen Anwendungen geworden ist. Die Anforderungen für verständliche und zugängliche Prozesse lassen sich in den WCAG 2.X nur unzureichend abbilden. Man denke nur an das wichtige Fokus-Management für Tastatur- und Screenreader-Nutzende.

Die Guideline User Control zeigt dagegen, dass immer mehr Anforderungen auch über die Anpassungen durch Nutzende im Browser, im Betriebssystem oder in den Anwendungen bzw. Webinhalten selbst erfüllt werden können. Es kommen hier also Aspekte aus den User Agent Accessiblity Guidelines (UAAG) und Authoring Tool Accessibility Guidelines (ATAG) dazu. Oft geht es darum, dass Autoren solche Anpassungen durch Nutzende nicht verhindern sollen bzw. ihre Inhalte grundsätzlich flexibel und anpassbar gestalten.

Dritt-Inhalte, nutzergenerierte Inhalte, dynamische Änderungen

Ein wichtiges Thema bei der Entwicklung der WCAG 3.0 ist der zunehmend dynamische Charakter von  Webanwendungen. Traditionell wurde die Barrierefreiheit nach Abschluss einer Entwickung geprüft und dokumentiert. Auch bisher schon kann jeder neue Inhalt, jede Änderung, bedeuten, dass eine einmal festgestellte volle Konformität nicht länger besteht. Das Web heute besteht jedoch zunehmend aus Inhalten, die aus verschiedenen Quellen zusammengeführt werden, die ständig aktualisiert werden und die nicht zuletzt häufig auch Input von Nutzenden aufnehmen - z.B. Kommentare, hochgeladene Bilder oder Videos. Der Umgang mit solchen dynamischen Inhalten ist eine der Herausforderungen bei der Entwicklung eines realistischen neuen Konformitätsmodells. Der "Alles oder Nichts" Konformitätsansatz der WCAG 2.X passt nicht länger zur Realität des Web.

Entwicklung der Outcomes

Die Outcomes sind aus einer grundlegenden Analyse der Nutzerbedürfnisse (user needs) von Menschen mit Behinderungen entstanden. Sie wurden dann in einem längeren Verfahren sortiert und verschiedenen Kategorien zugeordnet, woraus sich das neue (vorläufige) Schema der Guidelines entwickelte.

Statt der bisherigen Aufteilung in drei Konformitätslevels (A, AA, AAA) wird es nun eine Aufteilung in Bronze, Silber und Gold geben, wobei voraussichtlich Bronze in etwa dem entsprechen wird, was bisher über AA abgebildet ist, und damit wahrscheinlich als Grundlage gesetzlicher Bestimmungen genommen werden wird. Für die höheren Levels Silber und Gold sollen dann zunehmend auch Tests mit Hilfsmitteln und mit Nutzenden einbezogen und dokumentiert werden - etwa in Erklärungen und Prozeduren (Assertions and Procedures), die dann z.B. auch in einer Erklärung zu Barrierefreiheit stehen könnten.

Beim Blick auf die Liste der Outcomes zeigt sich, dass viele sicherlich noch verbesserungsbedürftig sind oder auch zusammengefasst werden können, während andere vielleicht nicht grundsätzlich für alle Inhalte passen und deshalb vielleicht nicht im allgemeinen Standard verbleiben werden, sondern eher Empfehlung für bestimmte Arten von Inhalten werden könnten.

Feedback erwünscht

Die lange Liste der Anforderungen beziehungsweise Outcomes wurde jetzt veröffentlicht, um ein Feedback der interessierten Öffentlichkeit zu ermöglichen: Was fehlt, was ist vielleicht nur schlecht oder gar nicht verbindlich prüfbar, was kann sinnvoll zusammengefasst werden?

Die weitere Entwicklung wird zeigen, wie viele normative Anforderungen am Ende in den WCAG 3.0 verbleiben werden und wie genau das neue Konformitätsmodell aussehen wird. Klar ist, dass die Prüfung komplexer werden wird: Einmal, weil mehr Anforderungen abgebildet werden, zum anderen aber auch, weil es Wege geben muss, Anforderungen, die sich eher auf einer Skala als mit einem Pass/Fail-Ansatz bewerten lassen, letztlich auf ein Konformitätsergebnis abzubilden.

Konstruktive Hinweise zu den neuen Outcomes des Entwurfes sind sehr willkommen und können die Weiterentwicklung des Standards unterstützen. Nutzen Sie W3C WCAG3.0 GitHub oder schreiben Sie eine Mail mit Ihren Kommentaren an public-agwg-comments@w3.org.

Die BIK Test-Dienstleistungen, etwa der BIK BITV- oder WCAG-Test (Web) oder der BIK BITV- oder WCAG2ICT-Test (App), orientieren sich stets an internationalen Standards. Doch bis die WCAG 3.0 als stabiler Standard veröffentlicht werden (und damit in unsere BIK Verfahren integriert werden können), wird es noch eine ganze Weile dauern.